von Hartmut Lehbrink

Ob im Silberpfeil-Formel-Renner oder im Weltrekordwagen - kaum ein Rennfahrer dominierte seine Zeit so sehr wie Rudolf Caracciola. Heute ist "Caratsch", der Über-Fahrer mit dem kindlichen Gesicht, fast vergessen. Auch, weil er nicht - wie damals üblich - im Auto starb.

 

"Was für ein Landsmann war Rudolf Caracciola? Italiener? Deutscher? Monegasse? Franzose?" Die Frage brachte den Kandidaten im Quiz um die Million sichtbar in Verlegenheit. "Caracciola", grübelte er, "das klingt italienisch. Aber Rudolf?" Und so war die Antwort am Ende falsch, und der Mann trollte sich mit 1000 Euro Mindestgewinn aus der Sendung. Kein Wunder: Der Name ist verblasst, obwohl er doch früher in aller Munde war.

 

"Ich bin mir sicher, dass Rudolf Caracciola von all den großen Fahrern, die ich kannte, Rosemeyer, Lang, Nuvolari, Moss oder Fangio, der größte war", schrieb Alfred Neubauer, Mercedes-Rennleiter in den dreißiger und den fünfziger Jahren. Caracciolas rascher Aufstieg in den Zwanzigern wird vor allem verbunden mit den Rennwagen im Zeichen des Sterns.

 

Nach einem erfolgreichen Intermezzo 1932 bei Alfa Romeo war Caracciola im folgenden Jahrzehnt förmlich zum Synonym für die Silberpfeile der ersten Generation geworden, jene W 25 und W 125 der 750-kg-Formel zwischen 1934 und 37 und die W 154 der Dreiliterklasse 1938 und 39, vor denen Motorsport-Aficionados heute noch in Ehrfurcht erstarren.

 

Kein Propaganda-Knecht der Nazis

 

Der "Caratsch" war in der Tat der Größte: Sechsmal gewann er allein den Großen Preis von Deutschland, einmal (1926) auf der Avus und sonst immer am Nürburgring, einmal (1932) auf Alfa Romeo und ansonsten stets auf Mercedes-Benz. Seine drei Europa-Championate von 1935, 37 und 38 lassen sich durchaus gleichsetzen mit den Weltmeisterschaften von heute.

 

Wo immer seine mehr als mannshohen privaten Mercedes-Limousinen mit dem Kennzeichen IA (für Berlin) 4444 auftauchten, murmelte man einander andachtsvoll zu: "Schau, der Caratsch." Im langen Windschatten seines Ruhmes träumten Millionen von Bengels von ähnlich glanzvollen Karrieren.

 

Natürlich versuchten die Nazis, die den Sport wie den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachteten, Caracciola für sich einzuspannen. Aber im Gegensatz zu Hans Stuck, der dem Aufenthalt an den üppig gedeckten Tafeln der Reichs-Größen durchaus seinen Reiz abgewinnen konnte, legte Caracciola lediglich die unvermeidlichen Pflichtübungen und Lippenbekenntnisse ab.

 

Erste Fahrversuche endeten mit Bocksprüngen

 

Rudolf Caracciola wurde am 30. Januar 1901 um halb vier in der Frühe als viertes Kind der Eheleute Maximilian und Mathilde Caracciola, Hotelbesitzer zu Remagen, geboren. Frühe Fahrversuche am Lenkrad des väterlichen Mercedes 16/45 verrieten keineswegs das schlummernde Talent, sondern wurden von der geschundenen Limousine mit Bocksprüngen und Knirschen der Getriebezähne geahndet.

 

Unverbrüchlich - die Niederlassung Dresden der Daimler-Motoren-Gesellschaft hatte ihn inzwischen als "Verkaufsbeamten" eingestellt - stand gleichwohl 1923 sein Entschluss, Rennfahrer zu werden. Dabei vermutete niemand hinter Rudi Caracciolas pausbäckigem Bubengesicht eine solche Entschlossenheit und derartige Fähigkeiten.

 

Auf nasser Fahrbahn konnte dem unaufgeregten Rheinländer niemand das Wasser reichen - wie etwa 1936 beim Grand Prix von Monaco, als er sich im 494 PS starken W 25 mit einem Finger- und Fußspitzengefühl sondergleichen seinen Pfad durch das glitschige Fürstentum ertastete, oder 1938 in Bremgarten. Man prägte für ihn den Begriff "Regenmeister" - eine Vokabel, die sogar als Fremdwort ins Englische übernommen wurde.

 

Der Regenmeister

 

Im Unterschied zu seinen Vollgas-Enkeln, welche die Formel 1 und nur die Formel 1 betreiben, war Caracciola ein Verwandlungskünstler am Volant: In den Jahren seines Sturm und Drangs gewann er sogar ein paar Motorradrennen auf einer Garelli. Bei Bergrennen ließ er sich nicht einmal von dem anerkannten Spezialisten Hans Stuck die Butter vom Brot nehmen und münzte diesen Hang zum Hang um in die drei Europabergmeisterschaften 1930, 31 und 32. Zweimal - 1930 und 1952 - schlug er sich achtbar bei der Rallye Monte Carlo.

 

1931 gewann er zu seiner eigenen Verblüffung zusammen mit Beifahrer Wilhelm Sebastian im SSKL als erster Ausländer die Mille Miglia. In jenem Jahr erschütterten die Nachbeben des Wall-Street-Crashs selbst das scheinbar felsenfeste Territorium der Daimler-Benz AG in Stuttgart-Untertürkheim. Mit Hilfe des Werks und Alfred Neubauer als listigem Strategen hatte Caracciola ein halb offizielles Team aufgezogen und revanchierte sich mit elf Siegen im Namen des Sterns, nicht ohne 180. 000 Reichsmark als Preisgelder zu kassieren.

 

Eingezwängt im klaustrophobisch engen Cockpit der stromlinienförmigen Rekordwagen von Mercedes-Benz erreichte er am 28. Januar 1938 auf der Autobahn Frankfurt-Darmstadt zudem einen neuen Geschwindigkeitsrekord von 432,692 und 432,360 Stundenkilometern über den fliegenden Kilometer und die fliegende Meile. Beim ersten Versuch drei Monate zuvor hatte das riesige Projektil vorn Auftrieb bekommen und plötzlich schräg in den blauen Himmel gezeigt, ein Vorgang, den Caracciola mit einer ans Makabre grenzenden Gelassenheit zu Protokoll gab.

 

Schwere Unfälle begleiteten die Karriere

 

Fernab jeder Talkshow-Geschwätzigkeit formulierte er griffig, prall und präzise. Meistens seien ja "diese dummen Geschichten gut ausgegangen: ein paar Rippen zerknackt, Prellungen und blaue Flecken am Heldenkörper", das sei alles gewesen. Bei einem Unfall 1934 während der Coppa Acerbo sei der W 25 "mit viel Geräusch in einem vier Meter tiefen Graben" verschwunden. Der frühe Nürburgring sei eine "bärig schwere Strecke" gewesen, am Lenkrad des Mercedes-Benz SS zumal, "dieser deutschen Eiche von einem Auto".

 

Was viele nicht wissen: Hinter dem Lächeln des Siegers verbarg sich viel Schmerz. Drei schwere Unfälle ereilten Caracciola während seiner Karriere. 1933 hatte er sich mit seinem Freund, dem Monegassen Louis Chiron, zusammengetan zur Scuderia CC (für Chiron/Caracciola). Das Joint Venture endete, bevor es so richtig begonnen hatte. Beim Training zum ersten Rennen der Saison in Monaco am 20. April blockierte am weißen Alfa Romeo P3 des Deutschen vor der Tabakskurve ein Vorderrad. Der Wagen rutschte in eine Steintreppe. Caracciola stieg noch aus, brach aber sofort zusammen. Oberschenkelknochen und Gelenkkugel rechts waren zertrümmert. Professor Putti, eine anerkannte Kapazität, rettete bei einer Operation in Bologna, was zu retten war. Aus vielen Monaten in Gips ging Caracciola mit einem um fünf Zentimeter verkürzten rechten Bein hervor. Der Schmerz blieb fortan sein ständiger Begleiter.

 

Für den Versuch eines Nachkriegs-Comebacks 1946 in Indianapolis bot ihm der Amerikaner Joe Thorne seinen Thorne Engineering Special an. Ein paar Runden zum Einfahren und Aufwärmen waren absolviert, anschließend gab man das Zeichen zur Qualifikation. Was dann geschah, blieb ungeklärt. Manche witterten sogar Sabotage: Der Pilot sackte ohne ersichtlichen Grund zusammen, seine Hände fielen vom Lenkrad, der Wagen raste in einen Sperrbereich. Caracciola wurde herausgeschleudert und verletzte sich erheblich am Kopf.

 

Mit dem Auto einen Baum gefällt

 

Am 18. Mai 1952 ging er im Mercedes-Benz 300 SL als Trainingsdritter den Preis von Bern auf dem Bremgartenkurs neben dem Zürcher Willy Peter Daetwyler auf einem Ferrari 340 America und seinem eigenen Stallgefährten Karl Kling an. Er kam am besten vom Start weg, wurde jedoch in der zweiten Runde von Hermann Lang und in der fünften von Kling überholt. In der 13. Runde rutschte das Heck des dunklen Coupés vor der Forsthauskurve beim Anbremsen weg. Es geriet über den Rand der Piste und fällte einen 20 Zentimeter dicken Baum. Caracciola wurde mit einem dreifachen Oberschenkelbruch links aus dem Wrack gehoben - Ende eines Rennens, Ende einer Ambition, Ende einer Erfolgsgeschichte.

 

Immerhin war er mit dem davongekommen, was der spätere Mercedes-Star Stirling Moss "a nodding acquaintance with Death" nennt - dem Schwätzchen mit dem Tod über den Gartenzaun. Immer wieder wurde er Augenzeuge beim Sterben der anderen: Schon sein Debüt auf der großen internationalen Bühne 1926 auf der Avus war gesäumt von tödlichen Unfällen. Seine eigenen Rekorde im Morgengrauen des 28. Januar 1938 waren gerade unter Dach und Fach gebracht, da starb der verwegene Bernd Rosemeyer auf der gleichen Strecke in seinem Auto Union bei Tempo 450, als in einer Schneise bei Mörfelden eine Bö einfiel - so hieß es. Am 25. Juni 1939 traf es beim Regenrennen von Spa seinen jungen Teamgefährten Richard Beattie Seaman. Auch persönliche Tragik blieb ihm nicht erspart: Von einem Skiausflug am 2. Februar 1934 kehrte seine Frau Charlotte Caracciola nicht mehr zurück, erschlagen von einer Lawine.

 

Trotzdem wurde Caracciola schon zu Lebzeiten zum Denkmal seiner selbst. Das bedeutet im Rennsport bekanntlich nicht, dass man auf die Ehrfurcht der Kollegen zählen kann. Immer schwelte die Rivalität mit dem routinierten Hans Stuck, dem unbekümmerten Senkrechtstarter Bernd Rosemeyer und dem genialen "fliegenden Mantuaner" Tazio Nuvolari. Vor allem aber bewahrheitete sich auch für ihn die Binsenweisheit, der ärgste Gegner sei der eigene Teamkollege. Sein Verhältnis zu Manfred von Brauchitsch war alles andere als spannungsfrei. Der cholerische Italiener Luigi Fagioli wehrte sich 1935 wütend gegen die Dominanz des Deutschen und heuerte schließlich für die folgende Saison vergrätzt bei der Konkurrenz Auto Union an.

 

Ab 1937 jedoch machte der etablierte Superstar die bittere Erfahrung, dass da jemand unaufhaltsam neben ihm aufstieg, bald ebenbürtig und schließlich einfach schneller war: der ehemalige Rennmechaniker Hermann Lang. Als dieser am 21. Mai 1939 beim Eifelrennen zwischen zwei W 154 wählen konnte und mit einem Stufenkompressor sowie Bremsbelägen siegte, über die Caracciola nicht verfügte, wurde dessen latentes Unbehagen zur Obsession. Er sah sich als Opfer einer pan-schwäbischen Seilschaft und machte sich am 27. Mai in einem Brief an den Vorstandsvorsitzenden der Daimler-Benz AG Dr. Wilhelm Kissel Luft: "Von Herrn Sailer (Max S., Vorstand zwischen 1935 und 1942, Anm. d. Red.) angefangen über Neubauer bis zu den Mechanikern besteht die Langpsychose."

 

Dass er am Ende seinen "Posten zur Verfügung" stellte, blieb zum Glück eine leere Drohgebärde aus dem Zorn des Augenblicks heraus. Am 23. Juli 1939 errang er beim Großen Preis von Deutschland seinen letzten großen Sieg im Wetterkuddelmuddel, in dem er sich immer wohl gefühlt hatte, und erhielt bis zum Ende seiner Tage eine Pension, allerdings von eher symbolischem Wert. Die Verdienste Rudolf Caracciolas um die Firma waren ohnehin unbezahlbar. Autor: Hartmut Lehbrink

 

 

Zum Weiterlesen: Hartmut Lehbrink: "Mercedes-Benz Rennfahrer-Lexikon". Heel-Verlag, Königswinter 2009, 250 Seiten.